Wenn Kinder dem System ausgeliefert sind…

Wenn ein Kind „aus der Spur ist“ dann darf man anscheinend, vor allem wenn man im klinischen oder therapeutischen Setting bzw. in der Jugendhilfe arbeitet, mehr als man mit gesundem Menschenverstand jemals verantworten kann.

Und das vollkommen unabhängig von Autismus. Wie man bei der TAZ nachlesen kann, gibt es da Bestrebungen, bei denen mir übel wird. Und nicht nur mir.

Die Klinikerfahrung unseres Ältesten und auch die teilstationäre Maßnahme haben uns schon vor Jahren gezeigt, wie einfach es sich PEDs (pflegerisch erzieherischer Dienst) und Bezugsbetreuer zum Teil machen.

Sehr oft hat sich bei mir der Eindruck ergeben, dass es vielen im System arbeitenden Menschen nur darum geht, wie es für sie einfacher ist. Wie das Kind / der Jugendliche für sie händelbar wird.

Ich weiß noch sehr genau, wie erschrocken und paralysiert unser Sohn uns davon erzählte, dass an seinem ersten Abend in der Klinik ein sechsjähriger Junge von vier PEDs ans Bett fixiert und runtergespritzt wurde. Und der Junge hatte „nur“ ADHS. Warum der Junge so außer sich geriet und was im Vorfeld alles nicht gesehen wurde und warum es nicht verhindert wurde, dass er so ausrastete, keine Ahnung.
Aber unser Sohn beschloss zu diesem Zeitpunkt, dass er niemals vor Ärzten oder PEDs zeigen würde, wie es in ihm wirklich aussieht. Er verstummte und passte sich an.
An den Besuchstagen umkreiste er mich und „überschüttete“ mich mit einem Redeschwall, weil alle Begebenheiten der letzten Tage sich Bahn brachen. Der für uns zuständige Arzt riet mir dringend davon ab, jeden Besuchstag und jede Telefonzeit zu nutzen. Sie (PEDs und Ärzte) hätten ja keine Chance an ihn heranzukommen, wenn er „immer bei mir alles abladen könne“. Die Telefonzeit nutzte unser Sohn übrigens sehr bald nicht mehr, weil er nicht alleine telefonieren durfte, Privatspähre wurde ihm da nicht zugebilligt.

Das aber bereits an diesem ersten Abend jede Vertrauensbasis zerstört worden war, hat er niemals verstanden.

Ich hatte ihn darauf hingewiesen und erklärt, warum unser Sohn „sich nicht zeigte“.
Die, in meinen Augen, herablassende Antwort, dass ein Autist ja niemals in der Lage wäre so zu schauspielern und deswegen kein Autismus vorliegen könne, widert mich heute noch an. Und weitere Aussagen haben mich massiv schockiert. Wenn mein Sohn sich zurückzog, dann war er schlicht „nicht gruppenfähig“ und brauchte noch mehr soziale Aktionen. Nach über acht Wochen brach sich all der Stress dann doch mal Bahn und die einzige Antwort darauf war dann Medikamentengabe, um in die Impulssteuerung einzugreifen. Bei einem weiteren „Ausraster“ (nach dem, was mein Sohn mir später erzählte, war es ein massiver Overload) wurde er in der Form bestraft, dass er zu Weihnachten nur zwölf Stunden auf „Heimatbesuch“ gehen durfte.
Als dann auch noch die Klinik ein Internat bzw. eine andere Form der Unterbringung aussuchen wollte und wir Eltern dies nur noch abnicken hätten sollen habe ich unseren Sohn da rausgeholt. Auch auf die Gefahr hin, dass die Suche nach einem Schulplatz dadurch sich massiv verlängern würde. Zu dem Zeitpunkt war unser Sohn (bis auf die Klinikschule bzw. Schule für Kranke, weil unterbesetzt übrigens max. 2 Stunden täglich) bereits acht Monate unbeschult. Und es sollte noch weitere acht Monate dauern, bis sich Schulamt und Jugendamt auf mein massives Drängen hin auf den Versuch einließen ihn mit Schulbegleitung wieder in eine ganz gewöhnliche Regelschule einzugliedern. Dazu musste unter anderem der pensionierte Lehrer (andere Lehrkräfte waren schlicht nicht greifbar), der den Hausunterricht für drei Monate (mehr wurde unserem Sohn nicht zugebilligt), schriftlich den Lernwillen und die Lernfähigkeit bescheinigen und wir mussten beim Regierungsbezirk darauf drängen, dass eine Amtsärztin ihn noch zusätzlich begutachtete.

Denen wäre es insgesamt lieber gewesen, wenn wir uns dem normalen Procedere unterworfen hätten. Wie viele Telefonate, Briefe und E-Mails nötig waren, um dies abzuwenden, kann ich nicht mehr zählen. Für einen kurzen Zeitraum hatten wir eine autismuserfahrene und unserem Sohn zugewandte SPFH (sozialpädagogische Familienhilfe), die uns unterstützt hat und auch vor dem Jugendamt sich für uns stark gemacht hat. Ich kenne aber auch Fälle, wo durch den Einsatz einer SPFH vieles schlimmer wurde.

Wenn ich also jetzt lese, wie Inklusion zurückgefahren werden soll, von Schwerpunktschulen die Rede ist, es um versteckte Kostensenkung geht und wie Zwangsmaßnahmen für nichtkonforme Kinder und Jugendliche per Gesetz vereinfacht werden sollen, bekomme ich Herzrasen.

Seit sieben Jahren beobachte ich nun schon, wie Eltern immer jüngerer Kinder, die im Schulbetrieb „anstrengend und auffällig“ sind in großen „runden Tischen“ geraten wird, das Kind in eine Klinik einzuweisen. Und ebenso lange, wie schnell zu Medikamenten und/oder manipulatorischen Therapien gegriffen wird um das Kind zurück in die Spur zu bringen.
Nein, ich bin kein grundsätzlicher Gegner von Medikation, aber mehr Augenmaß und mehr Zeit wäre extrem hilfreich. Aber daran fehlt es überall. Schema F (so haben wir das schon immer gemacht) ist schlicht nicht hilfreich.
Und bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS und/oder Autismus gibt es weit vorher viel zielführendere Maßnahmen als Medikation, Unterbringung speziellen Wohnformen und Klinik samt Zwangsmaßnahmen.

Es kann nicht angehen, dass Schulen bzw. Lehrkräfte auf einer stationären Unterbringung bestehen, wenn sie vorher noch nicht mal ansatzweise irgendwelche Formen der Unterstützung zum Beispiel über Nachteilsausgleiche angeboten haben.
Es kann nicht angehen, dass Eltern pauschal die Erziehungsfähigkeit abgesprochen wird und sie gegängelt werden, Gott weiß was zuzustimmen.
Es kann nicht angehen, dass es sich die mit dem Kind/Jugendlichen arbeitenden „Fach“Leute derart einfach machen.

Und nein, wir reden hier nicht ausschließlich von den „schweren“ Fällen. Wir reden hier von allen Kindern, die nicht so funktionieren wie es das Umfeld gerne hätte.

4 Kommentare zu „Wenn Kinder dem System ausgeliefert sind…“

  1. Hat dies auf sinnesstille rebloggt und kommentierte:
    Danke für den Beitrag!

    Auch wir haben es erlebt, und ich bekomme von so vielen Eltern ein ähnliches Leid geklagt. Die „Empfehlung“ – man sollte es eher Erpressung nennen – die Kinder in Kliniken zu geben, wird immer häufiger ausgesprochen, und das erschreckt mich zu tiefst.
    Schulen, die sich auf besondere Herangehensweisen und Umgangsformen spezialisiert haben, verweigern den so wichtigen Austausch mit den Eltern und blocken Nachteilsausgleiche ab, isolieren die Kinder mitsamt Schulbegleiter in extra Räumen und rufen nach Medikamenten, als ob diese das Allheilmittel wären.
    Und selbst bei Kindergartenkindern bemüht man sich nicht mehr um den Leitsatz „ambulant geht vor stationär“, was bei den Diagnostiken schon los geht.

    Ich finde es immer erschreckender, wie auch mit den völlig verzweifelten Eltern auf der Suche nach Hilfe umgegangen wird, und ich frage mich, was wir tun können, um diese Zustände zu verbessern.
    Mir geht das alles sehr nah! 😦

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  2. Unser Sohn hat ’nur‘ teilstationäre Klinikerfahrung. Wenn es aber nach der Tagesklinik gegangen wäre, hätten wir genau diese Erfahrungen auch machen müssen, bzw. er schmerzhaft erleben müssen, dass genau so etwas mit ihm passiert. Und wir als Eltern nahezu keine Möglichkeit mehr gehabt hätten, einzugreifen (ohne Auto schlechte Möglichkeit zu besuchen, zudem weigerte er sich bis dahin ein Handy überhaupt in Erwägung zu ziehen, geschweige denn zu telefonieren).

    Die Forderungen der Schule nach einem Klinikaufenthalt kennen wir auch und wir haben uns nie darauf eingelassen, zumal und die direkte und konkrete Frage nach dem ‚warum?‘ nie beantwortet wurde. Die Forderung wurde nur in Mails, sowie am Telefon geäußert. Ich gebe Dir recht, denn ich denke, dass Lehrer sich unfassbares anmaßen, gerade wenn es um autistische Schüler geht. Und ich muss noch dazu sagen, dass ich noch nie außerhalb seines (und meines) Autismus, derartiges Mobbing erlebt habe.

    Was die Jugendhilfe an sich betrifft, also die externe Hilfe von Organisationen, hier außerhalb des Jugendamtes, von dort wird ’nur‘ bewilligt, die hier seit knapp einem halben Jahr installiert wurde: ich bin positiv erstaunt!
    Es gibt 2 Mitarbeiter. Einen für unseren Sohn, eine für uns als Eltern. Es wird akzeptiert und als vollkommen normal angesehen, dass seine Kontaktaufnahme nur sehr minimal ist, aber auch jedes Mal ‚gefeiert‘ (!!), wenn er mehr geschafft hat, als das Mal vorher. Und wenn es nur ist, dass er etwas nicht verneint hat. Die Hilfe, Akzeptanz und Unterstützung, die ich erfahre, ist komplett anders als das, was ich in den letzten 10 Jahren erlebt habe: man sieht was ich leiste, bzw. wir, achtet dies und befindet es für richtig (anders wäre es mir egal, aber momentan tut es gut). Und die Aussagen ‚bei anderen Familien arbeite ich sogar stundenweise im Urlaub, aber bei Ihnen ist das nicht nötig, denn Sie haben alles bestens im Griff‘ ist ebenfalls für unser Ego, trotz des Wissens, dass wir hier gut arbeiten, sehr sehr viel wert.

    Ich schreibe dies hier, weil ich mir wünsche, dass es deutlich ist, dass es zwar Familien gibt, die komplett mit ihren Kindern durch das sehr löchrige Raster dieses Systems gefallen sind, aber dass es durchaus Fachpersonal gibt, dass die Bemühungen, Anstrengungen, Ängste und Sorgen absolut und zu 100% respektieren und auch honorieren.

    Außerdem denke ich, dass Deine Kinder die beste Mutter schlechthin haben und wenn sich mir der Eindruck aufdrängt, dass da gewisse Personen wohl inzwischen Angst davor haben, dich als Gesprächspartner vor sich sitzen zu haben: gut so!!!!

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