ABA, es gibt „Ratgeber“ in Buchform …. I

also hab ich mir eines dieser Exemplare gekauft.
Weil mir ja immer mal wieder vorgeworfen wird, dass ich mich nicht korrekt informiere.
Ich habe dieses Buch schon seit einiger Zeit hier und mehrfach darin gelesen.
Vor allem, weil es von einem glühenden Verfechter dieser „Therapie“ bzw. „Lerntheorie“ übersetzt wurde. Es ist sehr anstrengend, dieses Buch zu lesen. Und lässt mich an der grundsätzlichen Einstellung der Autoren gegenüber Menschen, hier im speziellen gegenüber Autisten und Autistinnen, zweifeln.

Aber erst einmal einige grundsätzliche Dinge, die man vorab wissen muss, wenn man sich mit ABA und der zugrunde liegenden Denkweise beschäftigen möchte.

Zu den Anfängen gehört John B. Watson der, von Iwan Petrowitsch Pawlow inspiriert, 1919 Experimente mit einem 8 Monate alten Kleinkind durchführte.
Heute wären solche Experimente strafbar!
B.F. Skinner erarbeitete die „operante Konditionierung„. Er übertrug seine durch Tierversuche gewonnenen Erkenntnisse und entwickelte die Verbal Behaviour. Welche von Noam Chomsky stark kritisiert wurde.
Ole Ivar Lovaas entwickelte dann die Applied Behaviour Analysis. Dies wird in diesem Artikel beschrieben.
Die Verfechter von ABA möchten diese gerne den Naturwissenschaften zuordnen.

Hier hatte ich schon einige Gedanken zu der Thematik veröffentlicht.

Nun zurück zu besagtem Buch/Ratgeber.
Der Titel: „Eltern als Therapeuten von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen“ Selbstständigkeit fördern mit Applied Behaviour Analysis.

Alleine dieser Titel widerspricht meiner Vorstellung von Elternschaft.
Ich habe vier Kinder, vier autistische Kinder!
Ich bin Mutter, nicht Therapeutin!
Der Titel hingegen suggeriert, dass Eltern autistischer Kinder mehr sein müssen.

Im Geleitwort wird ein Artikel der Belfast Telegraph benannt, wonach ein Junge namens Colin (Diagnose Asperger Syndrom) mit behavioralen (lernpsychologisch fundierte, verhaltenstherapeutische) Methoden therapiert wurde. Den Artikel selber habe ich leider nicht gefunden, verweise aber gerne auf diese Seite, wo er ebenfalls erwähnt wird.

Ich möchte an dieser Stelle besonders darauf hinweisen dass dieses Buch keine Unterschiede bzgl. der Formen/Ausprägung der Autismus Spektrum Störung mehr macht und dementsprechend ABA als „die“ Intervention bei Autismus ansieht.
Da dieses Buch detailreich und ausführlich ist, werde ich mich heute darauf beschränken, mich mit dem ersten Kapitel (1.1 – 1.5) auseinander zu setzen.
In diesem geht es um „den aktuellen Wissensstand und die Versorgungslandschaft bei Autismus-Spektrum-Störungen in Deutschland“.

Dieses Kapitel wurde von Hanns Rüdiger Röttgers und Schide Nedjat geschrieben.
Diese beiden Autoren verweisen auf die Evidenz von ABA.

„…der evidenzbasierten, lernpsychologischen Prinzipien, die der ABA zugrunde liegen, um damit Menschen mit ASS (AutismSpektrumStörungen) die bestmöglichen Chancen zu bieten…“

Zur Evidenz gibt es auf dem Blog realitätsfilter Interessantes zu lesen.

Es folgt eine Begriffsklärung zwischen ABA und AVT (Autismusspezifische Verhaltenstherapie) und es wird erwähnt, dass sich die AVT in Teilen der Methoden von ABA bedient.

Zu Recht weisen sie darauf hin, dass der BCaBA (Board Certified Assistent Behaviour Analyst), der BCBA (Board Certified Behaviour Analyst) und der BCBA-D (Board Certified Behaviour Analyst auf dem Niveau eines Doktorgrades) in Deutschland keine anerkannten Titel sind, weil sie nur Zertifikate einer privaten, ausländischen Fachgesellschaft sind. Dort können sich Interessierte auch den „Professional and Ethical Compliance Code“ ansehen

Nach deutschem Recht können diese in Deutschland nicht als Therapeuten auftreten, wenn sie nicht über weitere heilkundliche und in Deutschland anerkannte Qualifikationen verfügen.
Was wohl mit ein Grund ist, warum es so oft Lerntheorie genannt wird.

Die Darstellung von Autimus und die Gegenüberstellung der althergebrachten Begriffe frühkindlicher Autismus und Asperger-Syndrom ist gut verständlich und hat inhaltlich keine Schwächen.
Auch zu den Ursachen von Autismus (Kühlschrankmutter, Impfungen, Vitamin- bzw. Mikronährstoffmangel) vertreten die Autoren den klaren Standpunkt, dass es sich hierbei um haltlose Theorien handelt. Sie verweisen darauf, das Autismus auf eine neurobiologische Ursache zurückzuführen sei.

Sie verweisen darauf, dass Autisten große Probleme in den Bereichen
Theory of Mind
zentrale Kohärenz
exekutive Funktionen
haben.

Dies erscheint mir gleichermaßen richtig wie auch falsch.

Aleksander Knauerhase hat hierzu bereits 2014 ausführlich geschildert, wie es die Fachwelt wahrnimmt und wie es sich aus der Sicht eines Autisten darstellt.

Schade, dass die Autoren des ersten Kapitels unter anderem solche Aussagen nur als

„…theoretisch und philosophisch von großer Bedeutung und wirken pauschalisierenden Diskrimminierungen entgegen….“

wahrnehmen und zu dem Schluss kommen

„… dass die überwiegende Zahl autistischer Menschen mangels kommunikativer Möglichkeiten diese Theoriediskussion weder mitverfolgen noch von ihr praktisch profitieren können.“

Die Gedanken der Autoren zur Diagnostik sind erfreulich realitätsnah.
Im Kapitel zu „wirksamen und unwirksamen Interventionen“ allerdings finde ich es irritierend, dass die gestützte Kommunikation unter anderem in einem Atemzug mit Delfintherapie und Impfausleitung erwähnt wird. Dies wird meines Erachtens der Thematik in keinster Weise gerecht.

In dem Unterpunkt „Gesundheitlicher Verbraucherschutz im Bereich Autismus“ gehen die Autoren eindringlich darauf ein, dass ABA zur Zeit nicht von Jugendämtern bezahlt würde. Weil diese nicht über „das Wissen um eine wissenschaftliche Wirksamskeitsprüfung“ verfügen würden, da diese (im Gegensatz zu den Sozialämtern) nicht mit den Gesundheitsämtern zusammen arbeiten würden.
Als Begründung wird auf verschiedene Fälle hingewiesen, wo es zu Streitigkeiten mit dem Jugendamt in Münster kam.
Einmal ging es um Schulgebühren um einen Regelschulabschluss zu erreichen (wo die Eltern den Rechtsstreit gewannen). Ein andermal verweisen sie darauf, dass die Kosten für eine Therapie nach MIA nicht gezahlt würde, aber „bedenkenlos“ eine tanz- und spieltherapeutische Maßnahme genehmigt wurde. Auch wird nicht erwähnt, in wie weit Herr Röttgers Einfluss auf die Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe nimmt, in dem er dort ABA anpreist.

Die Autoren versteigen sich sogar so weit, zu sagen, dass

„….Ergo- und Physiotherapie und allgemeine heilpädagogische Förderungen …….. trotz gutem Willens und aufopfernden Bemühens aller Beteiligten nicht dazu beitragen, dem autistischen Menschen tatsächlich in seinen besonderen Bedürfnissen zu kognitiver, kommunikativer und sozialer Entwicklung nützen und dessen Selbstständigkeit fördern….“

sie behaupten, dass es bei unspezifischen Angeboten zu

„……. Verharren in autistischen Stereotypien und eingeschränkten Interessen und Verhaltensweisen……“

kommt.
Sie sprechen von „verpassten Chancen“.
Und erwecken den Eindruck, dass wenn nicht ABA genutzt würde, die Eltern in „Resignation und Fatalismus“ enden würden und dann die Kinder zwangsläufig in Heimen untergebracht werden.

Korrekt stellen die Autoren die Zuordnung dar, bei welcher Diagnose welches Sozialgesetzbuch (SGB) Anwendung findet.
Sie kritisieren, dass es keine bundeseinheitlichen Standards für Therapie bei Autismus gibt und dass die ATZ (AutismusTherapieZentren) in großen Teilen zu unspezifisch und zu niederfrequent sind.
Eins der wenigen ATZ, dass gut wegkommt in der Betrachtung der Autoren, ist das ATZ Köln, was ABA anbietet.

Die im Buch erwähnten Qualitätskriterien bzgl. einer evidenzbasierten Intervention bei ASS lesen sich wie die Bibel der BCBA’s.

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Nun, ich habe Werbung erwartet. Das ABA als die einzig wahre Möglichkeit angepriesen wird, Autismus in den Griff zu bekommen.
Diese Erwartung wurde bis hierhin voll erfüllt.

Ich weiß, dass Herr Röttgers bereits seit langem versucht, ABA als „Die“ Therapieform schlechthin in Deutschland zu etablieren. Auch nachzulesen hier und hier.

Ich empfinde dies als sehr befremdlich, wie vorgegangen wird und jeder, der nicht seiner Meinung ist, bzw. nicht nach seinem Konzept arbeitet/arbeiten möchte, angegangen wird.

Da dies hier nur ein Einstieg in dieses komplexe Buch ist und die einzelnen Kapitel eine Betrachtung verdienen möchte ich hier noch kein abschließendes Wort finden.

Aber ich möchte mein großes Unbehagen zum Ausdruck bringen, welches bereits die ersten Unterkapitel erzeugen.

Vermitteln diese doch schon, dass jeder der ABA nicht ernst nimmt und anwendet bzw. finanziert, die autistischen Kinder quasi verwahrlosen lässt.

6 Kommentare zu „ABA, es gibt „Ratgeber“ in Buchform …. I“

  1. „sie behaupten, dass es bei unspezifischen Angeboten zu „……. Verharren in autistischen Stereotypien und eingeschränkten Interessen und Verhaltensweisen……“ kommt. Sie sprechen von „verpassten Chancen“.“

    Nun habe ich das Buch nicht gelesen, aber das klingt für mich vor allem danach, dass ja das Kind ohne ABA nicht gut genug normalisiert werden kann. Ich lehne ABA unter anderem wegen der meiner Meinung nach fehlgeleiteten Zielvorstellung ab – dass es möglich und überhaupt wünschenswert wäre, Autisten in Nicht-Autisten umzuerziehen. Ich halte das für schädlich und in der Art der Ausführung bei ABA für grausam.

    Mit Stereotypien wird ja unter anderem Stimming gemeint sein, was unter ABA ja als falsche Verhaltensweise aberzogen wird, ohne sich darüber zu kümmern, welcher Sinn hinter dem Stimming steckt. Ich sehe sehr oft Menschen in der Bahn oder im Bus mit dem Fuß wippen – sind das alles unerkannte Autisten, denen man das dringend abtrainieren muss, damit sie normaler aussehen? Nö.

    Weiterhin wird noch etwas Normales pathologisiert, wie so oft bei Autisten – nämlich, dass sie sich nicht für alle Dinge auf der Welt gleichermaßen stark interessieren. Aber wer tut das schon? Dass Autisten sich so viel mehr noch in ihre Hobbies hineindenken können, hängt meiner Meinung und meiner Erfahrung als autistischer Mensch nach vor allem mit der genauen Beobachtungsgabe zusammen. Ich kann mir viele Informationen über ein Interessensgebiet aneignen, weil mein Gehirn das eben kann. Nicht, weil ich krank oder eingeschränkt wäre. Auch die autistischen Verhaltensweisen wären ja kein weiter großes Problem, käme da Verständnis und Wissen von der Gegenseite und kein pauschalisierendes „Du musst aber wie wir sein, sonst akzeptieren wir dich nicht!“.

    Dass gerade autistische Kinder zeitweise keine anderen Interessen zu zeigen scheinen, ist für mich eine Nebelkerze, denn diese Zeit vergeht durchaus (ich hatte als 5jährige kein Interesse an anderen Kindern, aber das änderte sich in den folgenden Jahren schon). Hier wird ein Zustand, von dem niemand sagen kann, ob er permanent sein wird, einfach als permanent vorausgesetzt, um dann behandelt zu werden. Daher glaube ich auch den Erfahrungsberichten der Eltern so wenig, wenn sie meinen, ihr Kind mache so große Fortschritte auf Grund von ABA. Kinder entwickeln sich aber nunmal ständig – post hoc ergo propter hoc. Vielleicht hätte sich das Kind auch ohne Therapie ganz genau so entwickelt.

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