Das Totschlagargument

Selbst- und Fremgefährdendes Verhalten

Immer und immer wieder wird dies ins Feld geführt.

Autisten bzw. autistischen Kindern wird unterstellt, dass diese „grundsätzlich“ dazu neigen würden, selbst- und/auch fremdgefährdendes Verhalten an den Tag legen würden.

Dies ist eine Diskussion die auf das Interview mit Marlies Hübner folgte.

Auf dem Blog dasfotobus gibt es schon einen sehr lesenswerten Beitrag dazu, der die Probleme aufgreift, die sich aus dem Vortrag von V. Wildermuth ergeben. Und was dort alles entweder nicht bedacht, bzw. von Befürwortern von ABA (wobei ich mich frage, mit wem er da gesprochen hat) einfach nicht benannt und durch Herrn Wildermuth nicht hinterfragt wurde.

Nun ist die Rhetorik von ABA-Befürwortern sehr systematisiert und wirkt fast einstudiert.
Gerne wird auch auf die Ethik von ABA verwiesen und dem Professional und Ethical Compliance Code for Behavior Analysts argumentiert.

Nur, was nützt mir ein Ethik-Code für einen „Berufsstand“, der in Deutschland nicht anerkannt ist. Wie auch Herr Röttgers einräumt. Nachzulesen hier.

Zu Recht weisen sie darauf hin, dass der BCaBA (Board Certified Assistent Behaviour Analyst), der BCBA (Board Certified Behaviour Analyst) und der BCBA-D (Board Certified Behaviour Analyst auf dem Niveau eines Doktorgrades) in Deutschland keine anerkannten Titel sind, weil sie nur Zertifikate einer privaten, ausländischen Fachgesellschaft sind. Dort können sich Interessierte auch den „Professional and Ethical Compliance Code“ ansehen

Und ob eine, durch eine Berufsgruppe erstellter Ethikcode, solche Erklärung irgendeine rechtsverbindliche Erklärung darstellt, sei mal dahingestellt. Im Zweifel wird sie einem Kind, dass durch einen BCBA behandelt wurde und welcher sich nicht an den Code hielt, in keinster Weise helfen.

Nun gab es in der Diskussion auf DRadioWissen folgenden Kommentar

klemm-solo
Kommentar Frau Klemm

 

„Diese Kinder mit Autismus zeigen selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten“

Dieser Satz ist das Totschlagargument schlechthin.

Ich kann diesem Satz als Mutter von vier autistischen Kindern nur absolut widersprechen.

Kinder mit Autismus zeigen mitnichten grundsätzlich
(und das impliziert dieser Satz)
solches Verhalten.

Wenn autistische Kinder aufgrund eines Overloads oder Meltdowns oder Shutdowns solches Verhalten an den Tag legen, dann geht dem etwas voraus, dass die Kinder dahin getrieben hat.

„In der Verhaltensanalyse wird probiert die Funktion des Verhaltens für den Betroffenen zu ermitteln.“

Bei diesem Satz musste ich tief Luft holen.

Funktion des Verhaltens

Ein autistisches Kind reagiert im Overload mit selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten AUF etwas, dass es nicht einordnen kann und es wird nach der Funktion des Verhaltens gesucht?

Wie kann ich nach der Funktion des Verhaltens eines Kleinkindes (denn diese sollen ja mit ABA behandelt werden, oder soll ABA doch lebenslang angewendet werden?) suchen, dass über sein Verhalten kommuniziert, dass etwas in seiner Umwelt für es in absoluter Unordnung ist. In solcher Unordnung, dass es damit nicht mehr zurechtkommt. Sich nicht zu helfen weiß. Das in gewisser Weise flüchtet.

Und das ist einer der größten Kritikpunkte an ABA überhaupt.

Nicht der autistische Mensch und sein Empfinden steht im Vordergrund sondern die Außenwirkung. Was das Außen empfindet und welche Funktion diese dem Verhalten des autistischen Menschen beimessen. Ob sie dieser Funktion solchen Wert zumessen, dass sie eine Daseinsberechtigung für das Außen darstellen könnte und somit tolerabel sei oder ob sie als behandlungsbedürftig identifiziert und abgestellt werden muss.

Und ja, ich weiß, dass der Alltag mit autistischen Kindern anstrengend ist. Ich weiß es nur zu gut.
Aber ich weiß auch (genau wie diese Mutter) dass ABA mir keine Hilfe wäre.
NICHT, weil ich zu faul wäre, oder weil ich nicht so viele Menschen in meiner Wohnung haben wollte, sondern einfach weil ich meine Kinder nicht über ihre gesamte Wachzeit hin therapieren (lassen) möchte.

Ich bin Mutter.
Keine Therapeutin.

Und ich benötige auch kein Bedauern von Außen bzw. Lob, dass ich das ja „toll meistern würde“ dieses „anstrengende“ Leben.

Ich kenne es nur zu gut, wenn es meinen Kindern schlecht geht.
Ich weiß wie ein Overload aussieht.
Wie sich ein Meltdown äußert.
Wie der Shutdown bei jedem einzelnen meiner Kinder konkret aussieht.
Und es ist als Außenstehende (und das bin ich auch als Mutter) schwer zu ertragen.
Ich weiß um das Gefühl der Hilflosigkeit und auch der Verzweiflung.

Aber ich weiß auch, wie ich meine Kinder unterstützen kann.
Damit es eben nicht zu selbst- bzw. fremdgefährdendem Verhalten kommt.

Ich muss nicht nach der Funktion des Verhaltens für mein Kind suchen sondern nach dem Auslöser des Verhaltens.

Sobald ich den Auslöser ausfindig gemacht habe, kann ich schauen, inwiefern der Auslöser „ausgeschaltet“ werden kann oder welche Hilfsmittel mein Kind an dem Punkt unterstützen.

Dies scheint für ABA Therapeuten (BCBA’s) von untergeordneter Relevanz zu sein. Falls es überhaupt für sie Relevanz besitzt oder es ihnen nur darum geht, dass der autistische Mensch das Aushalten erlernen muss.

Jegliches Aushalten von äußeren Umständen und Unterdrücken von eigenen Empfindungen ist aber nachweislich schädlich für jeden Menschen.

Es wird in der ABA Therapie (nach der Lektüre von Fachbüchern zu der Thematik muss ich zu diesem Schluss kommen) aber nie in Erwägung gezogen, welche Auswirkungen diese Therapie für den autistischen Menschen hat, sondern nur, welche Auswirkungen es für die Eltern und das Umfeld hat.

Rebecca Klein, eine non-verbale Autistin, die per gestützer Kommunikation kommuniziert, hat 2009 einen beeindruckenden Text geschrieben.

„inklusion bedeutet für mich aber auch ganz ganz viel mehr. sie ermöglicht mir ohne scham ich selbst zu sein. ich schäme mich für meine behinderung. es ist unsagbar peinlich immer wieder an die barrieren der anderen zustoßen. ich will mich zwar anpassen. es ist erforderlich gewisse soziale regeln einzuhalten. gewalttätigkeit ist eine eindeutige grenzüberschreitung, egal von wem. aber meine sang und klanglos vorübergehenden autistischen besonderheiten schaden niemanden. ich könnte bestimmt dressiert werden. aber nie absolut. ich müsste dafür aber mich immerzu verleugnen. viele therapien für uns sind nichts anderes als dressurakte, um uns normgerecht zu verändern.

Wir müssen autistischen Menschen Gehör schenken.
Wir, das sind Eltern, Experten und Therapeuten.

Ich als Mutter autistischer Kinder habe die Verpflichtung, meiner Fürsorgepflicht in besonderem Maße Genüge zu tun und mich mit den Experten für Autismus auseinanderzusetzen. Den Autisten selber.

Denn diese leben den Alltag mit Autismus Tag für Tag.
Ebenso wie meine Kinder.

Das ist etwas, das sie allen studierten Experten voraus haben.

7 Kommentare zu „Das Totschlagargument“

  1. Mein selbstverletzendes Verhalten liegt an Gefühlen, die ich auf Grund der Alexithymie (was eine ganz andere Diagnose ist als der Autismus, Schätzungen nach sind 10 Prozent der Bevölkerung gefühlsblind) nicht gut erkennen und einordnen kann. Als „Spannungsablass“ kratze ich mich selbst, wenn ich aufgeregt oder sehr wütend bin. Ich bemerke dabei gar nicht, dass ich das tue. Erst, wenn dann langsam der Schmerz ins Bewusstsein vordringt, fällt mir auf „ach, Mist, schon wieder gekratzt“. Ich habe dafür jetzt einen Stimming Ball. Das ist ein kleiner Knautschball, den man bei Wut oder Aufregung fest drücken kann und der sich dadurch aufbläht zwischen den Fingern. Das fühlt sich super an und ich konnte damit meine Kratzanfälle drastisch reduzieren. Muss halt nur dran denken, ihn immer dabei zu haben. Ansonsten meide ich Dinge, von denen ich weiß, dass sie mich wütend machen auch manchmal. Bspw Diskussionen mit Impfgegnern auf facebook. Ich sage dann nur meine Meinung und gucke nie wieder auf den Thread, weil ich weiß, es würde mich aufregen.

    Aber wichtig hier ist: Ich merke es gar nicht. Es ist eine intuitive Reaktion meines Nervensystems auf diese Überlastung. Es wäre ein riesiger Kraftakt von mir, dieses Verhalten, wie in ABA erwünscht, zu unterdrücken, vor allem, wenn keine Alternativen angeboten werden. Dann würde ich das Verhalten vermutlich nur noch heimlich zeigen (in der Schule fing ich an, das zu unterdrücken, weil andere Kinder angefangen hatten, zu glotzen). Es verlagert also nur das Problem, eventuell sogar so, dass man nicht mehr gut helfen kann.

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  2. Zum Thema Selbst- und Fremdgefährdung macht man es sich in Bezug auf Therapien mMn auch zu einfach. Dazu gehört für mich auch Selbstverletzung aller Art.
    Ein kleines Kind mag ich noch aufhalten können, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, ihm vielleicht auch Alternativen antrainieren. Es ist und bleibt aber nur Umlenken einer Ausdrucksform. Aber was mach ich mit einer 15jährigen, die angefangen hat sich zu ritzen? Heimlich! Was hätten meine Eltern tun können, als ich mich weigerte zu essen? Heimlich! Wie spät wird bei Jugendlichen bemerkt, dass sie in eine Sucht geraten sind? Heimlich! Dieses schauspielern müssen ist irgendwann einfach unerträglich.

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  3. Ich gehe davon aus, das unser Verhalten immer auch eine ( regulierende) Funktion für uns hat. Egal ob Autist oder NT. Ist es dysfunktional, lohnt es sich genauer hin zu schauen, warum man etwas genau so macht oder braucht. Beispiel: ADHSler bewegen sich, um sich „richtig “ zu machen. Eine kurze individuelle Bewegungspause mitten im Unterricht verhindert weiteres rumkaspern, Stuhlwippen usw.
    Natürlich suchen wir uns Ventile, um Anspannungen zu mildern. Rauchen, mit dem Fuß wippen, auf einem Blatt Papier kritzeln….
    Das Problem sehe ich eher darin, dass manche Verhaltensweisen sozial nicht akzeptiert werden. Und das ist unabhängig von deren Schädlichkeit für sich oder andere.
    Es braucht nicht ABA, um zu lernen, eigenes dysfunktionales Verhalten umzusteuern, wenn man damit sich selbst schädigt oder andere belästigt. Und man muss kein Autist sein, um sich dieser Aufgabe AUS EIGENEM ANTRIEB zu stellen. Damit sind wir alle gefordert.

    Gefällt 1 Person

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