Mord ist nicht gesellschaftsfähig – oder doch? Oder darf man bei behinderten Menschen zumindest relativieren?

Es gab gestern eine sehr heftige Diskussion auf Twitter, die mich am Verstand einiger Menschen zweifeln lässt. Vor allem an deren Fähigkeit zur Reflektion.

Ausgangspunkt war der dieser Tweet

Daraufhin hagelte es Vorwürfe gegen alle, die diesen Tweet weitergaben. Die hier den behinderten Menschen sahen, der keine Entscheidungsfreiheit hatte. Dem das Leben genommen wurde. Um es nochmal klar zu sagen. Ich verurteile jeden Menschen, der aus freier Entscheidung einen Menschen umbringt.

Denn für Mord gibt es keine Entschuldigung.
Keine Überlastung dieser Welt rechtfertigt es, jemanden zu töten.
Es gab damals Hilfen und es gibt sie heute. Ja, diese Hilfen müssen leichter erreichbar sein bzw. werden. Und nochmal ja, genau diese Hilfen müssen den behinderten Menschen gerecht werden.
Aber es ist KEINE Notwehr, wenn eine pflegende Person den zu Pflegenden umbringt. Es „entlastet“ nur die pflegende Person. Der zu pflegende Mensch ist einfach tot. Das hat was von Euthanasie durch die Hintertür. Die im Behinderungsbereich bzw. in der Altenpflege wohl auch irgendwie akzeptiert scheint. Dieser Eindruck ist zumindest bei mir gestern entstanden, als ich all die zum Teil sehr widerlichen Antworten bzw. Unterstellungen gelesen habe.

Das Thema ist nicht neu. Bereits 2014 schrieb die Bloggerin Butterblumenland über diesen sehr merkwürdigen Effekt.

In 2013 gab es diese beeindruckende Demonstration.

Und da die Morde an autistischen Kindern einfach nicht abreißen (immer mit Überforderung „entschuldigt“) gibt es diese Gedenkseite. Der zur Zeit letzte Eintrag ist vom 17.10.2016.

Ich bin Mutter von vier autistischen Kindern. Seit 20 Jahren kümmere ich mich um sie. Und ja es ist oft anstrengend und treibt mich an meine Grenzen. Nebenbei bemerkt nicht nur bedingt durch das, was Autismus hier an Herausforderungen mit sich bringt; sondern hauptsächlich dadurch, dass die Hilfesysteme oft nicht funktionieren. Und auch habe ich zusätzlich meine Mutter 2 Jahre gepflegt. Und ich weiß verdammt gut, was ein anstrengender Alltag ist. Wie fordernd und auch oft überfordernd der Alltag einer pflegenden Person ist.
Vor allem, wenn es im häuslichen Rahmen die engsten Bezugspersonen sind.

Ich habe Hochachtung, vor jedem der sich dieser Aufgabe stellt. Noch größere Hochachtung habe ich vor jenen Eltern, Eheleuten, Geschwistern und Kindern; die sagen „wir können nicht mehr – wir gehen kaputt daran – wir brauchen Hilfe“. Und die dann sich professionell unterstützen lassen oder einen Heimaufenthalt für die von ihnen betreuten Menschen in die Wege zu leiten.
Und ich habe ebenfalls vor jedem Hochachtung, der im pflegerischen Bereich arbeitet (und sich den miserablen Bedingungen, die dort herrschen stellt) und dadurch überhaupt erst die Möglichkeiten schafft, dass wir privat Pflegenden Entlastung bekommen können.
Deswegen unterstütze ich den #Pflegestreik, auch hier gibt es Lesenwertes dazu.

Dies sollte übrigens jeder Mensch tun. Denn die Bedingungen in der Pflege für die dort Arbeitenden sind einfach unterirdisch.

Aber zurück zur der gestrigen Diskussion. Ich fragte gestern eine der diskutierenden bzw. relativierenden Personen ob es einen Unterschied gäbe zwischen:

ich bekam keine Antwort.

Was mir fehlt in all den Diskussionen, es wurde immer nur nach Ausreden gesucht, warum die Pflegende Person zu bemitleiden sei. Es wurde uns vorgeworfen, dass wir diese Personen nicht im Blick hätten. Es wurde aber nie der Mord verurteilt.

Zumindest Gerichte sehen z.B. in dem Fall von London McCabe alle Merkmale von Mord erfüllt. Die Mutter von Charles-Antoine Blais hingegen wurde als eine Art Vorbild“ von der Autismusgesellschaft von Montreal engagiert.

Andere Mütter wurden regelrecht dazu aufgefordert, ihre Kinder umzubringen. Und auch mir ist dies schon begegnet.

Es scheint bei einigen Menschen gesellschaftlich akzeptiert zu sein, dass Leben von behinderten Menschen, hier im speziellen von autistischen Menschen beenden zu dürfen. Und wenn jemand googelt, wird er eine ähnliche Akzeptanz auch bei anderen Behinderungsbildern finden.

Warum?

Ist es diese tiefsitzende Überzeugung, die aus der Nazizeit übrig geblieben ist, dass es lebensunwertes Leben gibt?

Ich dachte wir wären weiter.

Für mich gilt der einfache Grundsatz, Mord ist Mord.
Es gibt keine Entschuldigung.

Update 07.10.2017:

Das Autism Memorial ist umgezogen. Man findet die Gedenkseite nun hier

https://autismmemorial.wordpress.com/

Der Grund für meine Suche war der Mord an dem vierjährigen Antonio Di Stasio.

5 Kommentare zu „Mord ist nicht gesellschaftsfähig – oder doch? Oder darf man bei behinderten Menschen zumindest relativieren?“

  1. Hat dies auf yowriterblog rebloggt und kommentierte:
    Ich war an der besagten Diskussion auf twitter mit beteiligt. Ich wurde aufgefordert, die Mutter nicht zu verdammen, weil sie überlastet gewesen sei.
    Und so, wie in diesem rebloggten Beitrag am Ende steht, hab ich darauf zurückgetwittert.
    Denn auch für mich bleibt ein Mord ein Mord. Ich habe ebenfalls mehrere autistische Kinder, ich weiß, wie man an der Grenze sein kann, wie aggressiv man werden kann. Ich weiß, wie gefordert man ist, wenn die normale Umwelt bestenfalls hämisch reagiert.
    Aber ich möchte nie an den Punkt kommen, mein Kind als Last zu sehen, die mich nur „hinabzieht“, oder mein Leben versaut. Nie.
    Niemand hat ein Recht auf gesunde oder pflegeleichte oder „normgerechte“ Kinder.

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..