… und arbeiten an diesem Text sehr, sehr schwierig wird.
Es ist ein Effekt den ich schon erlebt habe.
Mal ein paar Beispiele?
In Klasse 10 wurde von Morton Rhue „Give a boy a gun“ gelesen.
Ein Buch über Mobbing, Hierarchie innerhalb eines Klassenverbandes und allem an schrecklichen Folgen, was man sich denken kann.
Für unseren Sohn war der Text unerträglich. Er konnte das Buch schlicht nicht bearbeiten.
In Klasse 5 wurde von Louis Sachar „Löcher. Die Geheimnisse von Green Lake“ gelesen.
Eine Erzählung über ein Erziehungscamp, ungerechte Behandlung durch die Aufseher.
Die dort auftretenden Ungerechtigkeiten machten damals das Buch schwer erträglich für unseren Sohn und später auch für unsere Tochter. Beide haben unterschiedliche Knackpunkte an der Geschichte als sehr schwierig erlebt.
In Klasse 4 wurde von Otti Pfeiffer „Nelly wartet auf den Frieden“ gelesen.
Ein Buch über die Erlebnisse eines Grundschulkindes, dass bei Kriegsende 1945 13 Jahre alt ist, literarisch festgehalten.
Hier war es nicht der Inhalt des Buches, der die Bearbeitung für unsere Tochter schwierig machte, sondern die Reaktionen der Mitschüler.
In Klasse 5 ein Kurztext über einen Jungen, der sich nicht traut vom 10 Meterbrett zu springen. Mitschüler hänseln ihn mit den Worten „Feigling, Feigling“.
Unser Jüngster kann sich nicht mehr auf die Aufgabe konzentrieren (einsetzen wechselnder Personalpronomen) da er die Ungerechtigkeit, fehlende Fairness der erwähnten Mitschüler nicht ertragen konnte.
In Klasse 9 wurde von Friedrich Schiller „Die Räuber“ gelesen.
Der Bruderzwist und die schwierigen Vater Sohn Beziehungen, sowie die Romanze (gekennzeichnet von Lug und Trug) machten es unserer Tochter sehr schwer den ohnehin nicht leichten Text zu bearbeiten.
In all diesen Texten werden starke Gefühle beschrieben oder Ungerechtigkeiten thematisiert.
Alle meine vier autistischen Kinder haben immer wieder große Probleme mit solchen Texten. Nicht selten kommt es zu Blockaden, die eine Weiterarbeit massiv erschweren oder verunmöglichen.
Jetzt könnte man ja sagen „das sind doch nur literarische Texte, wieso ist das gerade für Deine Kinder solch ein Problem“.
Das Problem ist, dass meine Kinder ganz genau spüren, dass da was schief läuft.
Das sie das sofort ändern möchten.
Das sie für Gerechtigkeit sorgen wollen.
Das sie hochgradig empathisch auf diese Texte reagieren.
Wie bereits in dem sehr guten Artikel von Meerigelstern „Autisten haben doch keine Empathie, oder?“ beschrieben, verfügen Autisten über ein sehr hohes Maß an Empathie.
Das kann so weit gehen, dass mich diese Beschäftigung mit dem Problem anderer Menschen so sehr mitnimmt, dass ich deren Gefühle dann selbst erlebe, dass ich aus dem Grübeln, wie ich denn helfen könnte, gar nicht mehr raus komme und dann an meine Grenzen gehe oder diese auch komplett überschreite, ohne das selbst gleich zu bemerken. Das ist dann sehr anstrengend, denn ich bin dann richtig erschöpft, brauche Auszeiten, Ruhe und irgendetwas, was mein Denken dazu abstellt. Funktioniert aber nicht immer.
Und ich bin nicht die einzige, die bei ihren Kinder erlebt, wie sehr diese mit den Geschichten mitschwingen.
Wenn meine Kinder mir zurückmelden, was an der Lektüre sie massiv beschäftigt, besteht die Möglichkeit über den Text und die darin beschriebenen Personen und deren Verhalten zu sprechen.
Manchmal ist weitergehende Literatur notwendig.
Was für diese Gespräche unheimlich wichtig ist, ist Ruhe und Zeit sowie Verständnis für die entwickelten Gefühle der Kinder.
Diese sind für sie vollkommen real.
Dieser Effekt tritt übrigens auch auf, wenn die Kinder Filme ansehen.
Leider kommen ihre Reaktionen oft zeitverzögert, da sie erstmal versuchen selbstständig mit dem gelesenen / gesehenen zurechtzukommen.
Wenn dies im privaten Rahmen geschieht ist es nicht weiter tragisch. Oft strahlen sie nur massive Unruhe aus, bis sie dann endlich mitteilen können was sie gerade beschäftigt.
Im schulischen Kontext ist das schwieriger, denn da gibt es ja einen engen, festgelegten Zeitrahmen in dem die Lektüre zu bearbeiten ist.
Von Lehrkräften kommt als Rückmeldung leider oft nur, dass das Kind die Arbeit verweigert und es kommt schon detektivischer Kleinstarbeit gleich, herauszufinden was gerade nicht passt.
Auch kann sich solch eine Blockade über mehrere Fächer erstrecken, weil sich gerade jeglich Kompensationskraft auf dieses eine Thema ausrichtet.
Ich habe lernen müssen, dass es sinnvoll ist, sich zeitnah auch als Eltern mit den Ganzschriften der Kinder zu beschäftigen um im Thema zu sein, wenn das Kind beginnt Fragen zu stellen oder über das Buch zu „schimpfen“.
Denn Lehrkräfte können das nur in geringem Maße auffangen und je nach Lektüre sind die Mitschüler nicht die geeigneten Mitdiskutanten um sich über Ungerechtigkeiten oder „merkwürdige“ Gefühle auszutauschen und diese verstehen zu lernen.